Görlitz ist eine Stadt der Mitte. Schon im Mittelalter führten hier hindurch die bedeutenden Handelswege zwischen Westen und Osten, vom Süden nach dem Norden Europas. Die Via Regia entfaltete zu ihrer Zeit einen universellen Dialog der Horizonte. Ihr verdankte das alte Görlitz seinen Reichtum, die Handelsräume zwischen Thüringen und Sachsen im Westen sowie Schlesien, Böhmen und Polen im Osten verbindend. Auf dieser Straße wanderten auch die Wissenschaften und die Künste, mit den Waren kamen und gingen die Handwerker und Baumeister der Gotik und Renaissance, die mozarabischen und jüdischen Mathematiker und Ärzte aus Spanien und die Mystiker, Musiker und Philosophen des Ostens.

 

Die steinernen Zeugen der Vergangenheit künden noch immer von der Einstigen Macht und dem Reichtum der Stadt. Geschichte und Tradition haben die Stadt Görlitz in eigener Weise geprägt und lassen es heute als ein Kunstwerk von höchster Vollkommenheit erscheinen. Nahezu unzerstört sind nicht nur das mittelalterliche Strassen- und Platzraster und die komplexe städtebauliche Struktur der großflächigen gründerzeitlichen Stadterweiterung vorhanden. Gleichzeitig besitzt die Stadt einen geschlossenen Gebäudebestand, der die Genese einer mitteleuropäischen Stadt über mehr als 750 Jahre in unvergesslicher Deutlichkeit anschaulicht macht. Vor der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg bewahrt geblieben, gilt Görlitz als ein Kleinod Europäischer Städtebaukunst – ein Ensemble von der Gotik über die Renaissance, Barock und die Gründerzeit mit über 4000 Einzeldenkmälern.

Stadt des Mittelalters Die frühe Blüte der Stadt Görlitz geht auf das 13. Jahrhundert zurück, als sich im Rahmen der hochmittelalterlichen Kolonisation Kaufleute und Händler an der Neiße ansiedelten. Analog zu anderen Städten in Mitteleuropa gaben die bereits bestehenden Straßen und der Flussübergang die räumliche Struktur des Stadtgrundrisses vor. Die Handels- und Ratsherren ließen sich entlang der Hauptstraße nieder. Die Viertel der Handwerker schlossen in den abzweigenden Gassen daran an oder lagen vor den Toren der Stadt, wie die der Gerber und Färber, die für ihre Arbeit die Nähe zum Wasser benötigten. Von Beginn an war Görlitz mit einer Stadtmauer eingefasst, die im Laufe der Zeit zum doppelten Mauerkranz mit zahlreichen Verteidigungstürmen und vier Toranlagen ausgebaut wurde. Görlitz entwickelte sich hauptsächlich im Innern der Stadtbefestigung und verdichtete sich zusehends.

 

Im Mittelalter lag Görlitz am Kreuzungspunkt zweier bedeutender Handelsstraßen, der Via Regia, die von Spanien bis nach Russland reichte, und der Bernsteinstraße, die vom Ostseeraum bis nach Böhmen und Südosteuropa führte. In Görlitz angesiedelte Kaufleute und Händler prägten die Stadtgestalt sowie das kulturelle Leben, und sie bauten den Handel aus. Besonderen Reichtum verdankte die Stadt dem Tuchmacherhandwerk, seinem Handel mit Stoffen und dem Tuchfärbemittel Waid. Es gab Reise- und Postverbindungen nach Berlin, Halle, Dresden, Wien, Prag, Breslau und Liegnitz. Auf Grund seiner zentralen Lage zwischen bedeutenden Städten Schlesiens, Sachsens und Österreichs entwickelte sich Görlitz im 16. Jahrhundert zu einem beachtlichen Handelsplatz.

Stadt des 19. Jahrhunderts Der Vergleich des mittelalterlichen Stadtgrundrisses mit dem von 1847 zeigt kaum eine Veränderung der Stadt. Die einsetzende industrielle Revolution sowie neue politische Einflüsse durch die Eingliederung von Görlitz und dem nordöstlichen Teil der Oberlausitz an Preußen im Jahr 1815 waren Grundlage für einen Wandel der Stadt. Die Einführung der Städteordnung 1830 trieb die Entwicklung voran. Da die vier Stadttore den Verkehr kaum noch bewältigen konnten, erfolgte schrittweise der Abbruch des Neißeturms (1841), des baufälligen Frauentores (1847) und des Nikolaitores (1894). Von der Stadtmauer verblieb einzig der östlich der Stadt gelegene Teil.

 

Der Anschluss an die sächsische Staatsbahn und insbesondere die direkte Verbindung nach Berlin ließen Görlitz im 19. Jahrhundert zu einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt werden. Angezogen durch niedrige Steuern und Bodenpreise, ausgedehnte Parkanlagen, die Görlitzer Heide östlich der Neiße sowie die Lage vor den Toren des Riesengebirges, ließen sich ab den 1850er Jahren zunehmend Pensionäre und Rentiers in Görlitz nieder („Pensionopolis des deutschen Ostens“). Neben dem Bau der schlesischen Gebirgsbahn (1864) erfolgte 1867 die direkte Verbindung über Cottbus nach Berlin und in südlicher Richtung der Anschluss an Zittau (1875). Die weitsichtige Verkehrserschließung führte in den 1880er Jahren zu einem deutlichen Anstieg der Bevölkerungszahlen.

Die Oststadt (das spätere Zgorzelec) im 20. Jahrhundert Das Neißeviertel, dessen Bebauung sich auf eine am Fluss entlang führende Straße beschränkte, war in der Stadtentwicklung von Görlitz bis Ende des 19. Jahrhunderts von geringer Bedeutung. Der Bau der Reichenberger Brücke als erster Neißeübergang führte zu einer Aufwertung des östlichen Ufers. Da das Gelände an dieser Stelle weniger steil anstieg, bildete dieser erste Neißeübergang die Grundlage für die dortige Stadtentwicklung. Um die Jahrhundertwende wurden die ersten Straßen, Häuser und öffentlichen Bauten angelegt wie beispielsweise die Oberlausitzer Gedenkhalle mit dem Kaiser-Friedrich-Museum, der heutige Dom Kultury, und die Bonifatiuskirche. Eine besonders rege Bautätigkeit erfolgte in den 1920er Jahren, als der soziale Wohnungsbau vorangetrieben wurde und gartenstadtartige Siedlungen entstanden. Der Schwerpunkt von Industrieund Verwaltungsstandorten lag jedoch auf der westlichen Flussseite.

 

Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war die Oststadt über sieben Brücken mit der restlichen Stadt verbunden; sie wurden in der Nacht vom 7. zum 8. Mai 1945 gesprengt. 1946 mussten auch die letzten deutschen Einwohner die Oststadt räumen. Die Regelungen des Potsdamer Abkommens trafen Görlitz schwer, da die Neiße die Stadt fortan teilte. Görlitz wurde zur Grenzstadt und verlor ein Fünftel ihrer Stadtfläche sowie die Görlitzer Heide, das wirtschaftliche Rückgrat der Kommune. Das Neißeviertel wurde zur polnischen Stadt Zgorzelec.

Görlitz vor der politischen Wende 1989 Durch glückliche Umstände ist die Görlitzer Altstadt uns heute noch fast unverändert erhalten. Selbst der Baupolitik der DDR gelang es nicht, die Altstadt zugrunde zu richten. Görlitz verfügt über das größte und besterhaltene Gründerzeitviertel Deutschlands. Als sich 1989 die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik öffnete, zeigten sich in der Innenstadt von Görlitz graue Fassaden, baufällige Häuser und leer stehende Quartiere. Doch hinter diesem trostlosen Anblick verbarg sich bis auf wenige Ausnahmen eine strukturell vollständig erhaltene Stadt mit Altstadt und Gründerzeitvierteln. Der schlechte Zustand der Altstadt war das Resultat der Wohnungsbaupolitik der DDR. Um die Wohnungsnot der 1970er Jahre zu beseitigen, wurden der Stadt Görlitz 6.000 Neubauwohnungen zugeteilt. Die neuzeitliche Entwicklung der Stadt nach Süden brachte die Altstadt immer mehr in eine Randlage. Ab 1978 sollte diesem Trend mit dem im Norden der Altstadt gelegenen Neubaugebiet Königshufen entgegengewirkt werden. Da 90% der Baukapazität in den industriell gefertigten Neubau flossen, konnten zeitgleich nur kleinste Maßnahmen zur Erhaltung der Altbausubstanz ausgeführt werden.

 

Bereits zu DDR-Zeiten hatte Görlitz starke Bevölkerungsverluste zu verzeichnen. Durch die Wegzüge in andere Städte ergab sich zwischen 1975 und 1990 ein Rückgang von 85.000 auf 72.000 Einwohner.

Transformation nach 1990 Die starken Bevölkerungsverluste stellen auch nach der politischen Wende von 1989 ein Hauptproblem der Stadtentwicklung dar. Die wirtschaftliche Umstrukturierung nach 1990 hat Görlitz ein zweites Mal schwer getroffen. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit, die Abwanderung und der Geburtenrückgang führten dazu, dass die Einwohnerzahl von 72.000 (1990) auf 54.000 (2014) zurückging.

 

Trotz all dieser negativen Aspekte besinnen sich die Görlitzer Bürger wieder auf ihre Geschichte und Tradition in wissenschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Bereichen. Nach annähernd 25 Jahren unermüdlichen Engagements lassen sich heute in der Stadt die Erfolge der Stadterneuerung ablesen. Görlitz ist wie keine andere vergleichbare Stadt ein dreidimensionales geschichtsbuch, das eine mehr als neunhundertjährige städtische, architektonische und kulturelle Entwicklung visuell nachvollziehbar und dem Betrachter auf einzigartige Weise erfahrbar macht. Die Stadt Görlitz besitzt neben einem einzigartigen Denkmalreichtum über eine kunstvolle städtebauliche Struktur, die über Jahrhunderte bewahrt und umsichtig weiterentwickelt wurde. Ihr Denkmalbestand erstreckt sich nicht allein auf die vollständig erhaltene Altstadt mit ihrem mittelalterlichen Grundriss, den Bürger- und Handwerkshäusern der Spätgotik, der Renaissance und des Barock, sondern auch auf die grossflächigen Stadterweiterungen des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihren anspruchsvollen Wohn-, Verwaltungs-, Sakral- und Industriebauten. Jede dieser Epochen drückte Görlitz ihren Stempel auf, trug zum unverwechselbaren Gesicht der Stadt bei.